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Wie die Grenzen von Morgen entstanden

Von Lennart V. Schmidt

Die EU meint es ernst mit der Kontrolle ihrer Außengrenzen. Dies konnte man eindrücklich bei den D-Day-Feierlichkeiten in der vergangenen Woche sehen. Teil der Festivitäten war ein Reenactment der Landung der alliierten Truppen in der Normandie. Als die britischen Fallschirmjäger unter den Augen tausender Schaulustiger auf europäischem Boden landeten und ihre Fallschirme zusammenpackten, staunten sie nicht schlecht, dass mitten im Feld französische Grenzbeamte an einem Tisch saßen und freundlich zur Passkontrolle baten. Sie seien, wie es hieß, nun immerhin kein EU-Mitglied mehr und deswegen sei eine Passkontrolle unabdingbar.

 

Das Thema der EU-Außengrenzen und Fragen der Migrationspolitik sind allerdings, auch in Deutschland, wenigstens bereits seit dem Sommer 2015 zu einem Dauerthema auf der politischen Agenda geworden. Migrationsfragen gelten dabei nicht zuletzt als entscheidend für den Aufstieg rechter Parteien in Deutschland und Europa. Das kann als Produkt einer längeren Entwicklung gelesen werden: Ulrich Herbert und Jakob Schönhagen haben in ihrem APuZ-Beitrag über die Genese der deutschen Asylpolitik  deutlich gemacht, dass die Asylpolitik schon in den 1990er Jahren wie kein anderes Thema die Menschen in Deutschland polarisiert hat. Die polarisierte Debatte Anfang der 1990er Jahre führte auch zu gewaltsamen Ausschreitungen gegenüber geflüchteten und neu zugewanderten Menschen. Die erschreckenden Bilder der Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda haben sich in das Gedächtnis der deutschen Zeitgeschichte  eingebrannt.

 

In der frühen Bundesrepublik war die Asypolitik noch stark durch den Kalten Krieg geprägt und auf kommunistische Länder in Europa ausgerichtet. In den 1980er Jahren gab es  ein kurzes Zeitfenster, in dem sich das Recht auf politisches Asyl auch für Menschen aus anderen Regionen der Welt zu erweitern schien. Dieses Zeitfenster schloss sich aber bald wieder durch steigende Flüchtlingszahlen in Verbindung mit einem sich verschärfenden politischen Diskurs und Ausschreitungen (wie in Rostock-Lichtenhagen). Im Jahr 1992 einigten sich SPD und CDU auf den Asylkompromiss, der festlegte, dass Asyl nur beantragen kann, wer nicht aus einem “sicheren Drittstaat” einreist. Damit schob Deutschland das Problem auf die Länder, die an den Außengrenzen der EU liegen. Denn geflüchtete Menschen mussten fortan in dem EU-Land, in dem sie als erstes ankamen, Asyl beantragen.

 

Damit kommen wir zu einem der "Geburtsfehler" der Europäischen Union - der Aufhebung der EU-Binnengrenzen ohne eine gemeinsame EU-Grenz- und Asylpolitik. Daher ist es keine Überraschung, dass die EU in den letzten Jahren Abkommen mit anderen Staaten zu schließen begonnen hat, um diese Migrationsprozesse zu steuern, bevor sie überhaupt nach Europa kommen. Teil dieser Strategie ist auch die Umwandlung der EU-Außengrenzen in "Smart Borders" mithilfe von Künstlicher Intelligenz. Dabei geht es darum, ein umfassendes KI-basiertes und von Drohnen gestütztes Überwachungssystem an der EU-Außengrenze zu installieren. Jan Böhmerman hat diese Strategie im ZDF Magazin Royale pointiert mit den Worten kommentiert, "wie genial wäre es, unmenschliches Handeln endlich an Maschinen outsourcen zu können?"

 

Bei der Aufhebung der EU-Außengrenzen ist klar, dass wichtige Aspekte wie gemeinsame Asyl- und Grenzpolitik nicht beachtet worden sind. Der Aufbau einer vernetzten Datenbank zur gemeinsamen Einreiseüberwachung in den Schengenraum war jedoch bereits kurz nach der Ratifizierung von Schengen gestartet worden. Mit dem Launch des Schengener Informationssystem (SIS) in den 1990er Jahren wurde der automatisierte Datenaustausch über Menschen ohne EU-Pass zwischen den EU-Mitgliedstaaten revolutioniert. Heute ist SIS laut Selbstbeschreibung das am “weitesten verbreitete und größte System für den Informationsaustausch in den Bereichen Sicherheit und Grenzmanagement in Europa. Die Entwicklung von Datenbanken wie SIS baut auf Pionierprojekten der Computerisierung wie dem Ausländerzentralregister (AZR) auf. Letzteres wurde im Jahr 1953 auf Druck der Alliierten im Kontext des Kalten Krieges eingeführt. Das AZR hatte unter anderem den Zweck, die Einreise von Kommunist:innen in die BRD zu kontrollieren und gegebenenfalls zu verhindern. Das karteibasierte Register, welches beim Bundesverwaltungsamt in Köln angegliedert war, wurde bereits im Jahr 1967 auf eine computerbasierte Datenbank umgestellt. Durch die Einbindung des AZR in die europäische Datenbankfamilie im Laufe der 1990er Jahre ist es Teil der Smart Border Strategie der EU geworden. Dennoch war das AZR bereits in den 1960er Jahre eine zentrales Element der digitalen Kontrolle von Migrationsprozessen. Dies gelang durch seine frühe Computerisierung und seine Verwendung als zentrales Instrument der Migrations- und Einreisekontrolle in der BRD.

 

Die Idee hinter einer digitalen Grenze ist allerdings nicht einfach zu definieren. Fragt man einen KI-Bildgenerator, etwa den von Microsoft, nach der Visualisierung des Prompts “Digital Borders Europe”, so generiert dieser das unten stehende Bild. Ein Pärchen läuft Hand in Hand umgeben von Containerschiffen und EU-Flaggen in einen gleißenden Sonnenaufgang hinein. Mit ein bisschen Fantasie ist das Flugzeug unter dem Grenzübergang als Eurofighter, ein Symbol der Europäischen Zusammenarbeit, zu erkennen.

 

Möchte man heute als Nicht-EU-Bürger in die EU einreisen, sind Datenbanken essentiell für den Einreiseprozess. Besitzt eine einreisende Person keinen Deutschen Pass, müsste sie, bevor sie die physische Grenze überhaupt passiert, zuerst die digitale passieren. Bei einer Visumsbeantragung darf sie zum Beispiel keinen negativen Datenbankeintrag im AZR oder im SIS haben. Dies bedeutet, dass die digitale Grenze der physischen Grenze vorgelagert ist und beim physischen Grenzübertritt von entscheidender Bedeutung bleibt, denn erst nach Vorlage eines gültigen Visums  befördern die Transportunternehmen Reisende. Es sind die Unternehmen, die hohe Strafen zahlen müssen, wenn sie Menschen ohne Visum über die Grenze bringen. Beim physischen Grenzübertritt werden die Datenbankeinträge dann erneut abgeglichen. Grenzbeamt:innen lesen die Einträge anderer Behörden und fügen ihre eigenen hinzu. Somit ist die digitale Grenze einerseits eng mit der physischen Grenze verbunden, weil beim Grenzübertritt die physische und die digitale Grenze gleichzeitig überschritten werden. Andererseits geht die digitale der physischen Grenzkontrolle, wie angedeutet, voraus. Denn ein negativer Datenbankeintrag macht das Erreichen der physischen Grenze nahezu unmöglich. Für EU Bürger:innen erleichtern Datenbanken heutzutage die Einreise. Es gibt mittlerweile viele automatisierte Grenzübergänge, an denen sie den Pass scannen können. Sodann wird das Passbild mit dem Gesicht abgeglichen und so lassen sich die oftmals langen Schlangen an den Grenzkontrollen für viele mitunter einfacher umgehen. Doch für andere sind die Datenbanken zu unüberwindbaren digitalen Grenzen geworden.

 

Mit den Datenbanken als zentralen Bausteine der Grenzkontrolle werden sie zu "machtvollen Sortiermaschinen der globalisierten Welt" wie der Soziologe Stefan Mau argumentiert. Ziel des Forschungsvorhabens der Digital Borders ist es, zum einen die gesellschaftspolitischen Kontexte zu erforschen, die den Aufbau digitaler Grenzen in der BRD ermöglichten. Zum anderen soll das Projekt die Entwicklungen in der Computer- und Informationstechnologie sowie deren Einfluss auf gesellschaftliche Diskurse über Rationalisierung und Modernisierung der Technik, aber auch den Kontext von Migration und Überwachung erforschen. Damit leistet es einen Beitrag zur Geschichte des bundesrepublikanischen Weges in die digitale Gesellschaft” mit einem Fokus im Feld der Migration.