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Hacking History: Digitalgeschichtliche Nachlese des 38C3

von Nina Neuscheler, Januar 2025

 

Ende Dezember 2024 fand in Hamburg der 38. Chaos Communications Congress (38C3) statt. Bei dem internationalen Hacker:innen Kongress, organisiert vom Chaos Computer Club (CCC), wurden unter dem Motto „Illegal Instructions“ vier Tage lang Themen rund um „technology, society and utopia“ diskutiert. Aus den Vorträgen und Disskussionen lässt sich viel über die Gegenstände der Computergeschichte und vor allem über ihre Akteur:innen und digitale Kulturen lernen. Die gute Nachricht für alle, die nicht dabei sein konnten: Ein Teil der Vorträge steht als Online-Aufzeichnungen auf der Media-Seite des CCC zum Nachschauen zur Verfügung. Ich möchte drei Vorträge empfehlen, die besondere Relevanz für Fragen der Geschichte digitaler Ungleichheiten haben.

 

 

1) Meredith Whittaker: Feelings are Facts: Love, Privacy, and the Politics of Intellectual Shame

Die ehemalige Google-Mitarbeiterin Whittaker begleitet Digitalisierung und den Schutz von Persönlichkeitsrechten seit langem kritisch, beispielsweise in ihrer Rolle als Vorsitzende der Signal Foundation, der Stiftung hinter dem gleichnamigen Open Source Messenger Dienst. In ihrem Vortrag gibt sie einen Überblick über die grundlegenden Veränderungen der Tech Industrie in den letzten ca. 30 Jahren, über die „Crypto Wars“ der 1990er Jahre, ihre Perspektive auf die Kommerzialisierung des Internets und die Entwicklungen zur fortschreitenden Eindämmung von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten durch die Tech Industry. Whittakers Gegenentwurf zu den Problematiken ist die Rückkehr zur Ausrichtung digitaler Dienste an den User:innen anstatt Konzerninteressen. Zudem plädiert sie für eine Stärkung und Verbreiterung von Verschlüsselung. Kurz: Sie fordert die Rückeroberung der digitalen Welt in Namen von Privatheit, Datenschutz und Intimität. Als Impulsgeberin, Theoretikerin und schließlich auch Zeitzeugin liefert Whittaker inspirierende Anstöße für die Geschichtsschreibung des Digitalen und dieser Vortrag ist eine gute Gelegenheit, Einblicke in ihr Denken und Handeln zu bekommen.

 

 

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2) Erlern: Escaping Big Brother (or Your Ex) - counter surveillance for women's shelters

Partnerschaftliche Gewalt beschränkt sich nicht auf die häusliche Sphäre und ist bei Weitem kein neues Phänomen. Die digitale Arena des 21. Jahrhunderts „is proving to be especially tricky for victims“ wie es in der Beschreibung zum Vortrag heißt. Digitale Überwachungsmöglichkeiten mit ihrem scheinbar praktischen Nutzen für die individuelle Sicherheit (wie automatische Standortverfolgung oder Videoüberwachung) können leicht in ihr Gegenteil gewandelt werden: die lückenlose Kontrolle anderer Menschen. Frauen sind überproportional von häuslicher Gewalt betroffen und gleichzeitig oft digital abhängig von ihren Partnern. Vom Mann, der den Laptop und das Handy der Partnerin einrichtet und auf dem Laufenden hält, ist es nur ein kleiner Schritt zur digitalen Kontrolle von Partner:innen. Gegenderte Zuschreibungen von Technikwissen, das eher bei Männern als Frauen angesiedelt wird, leisten also Kontrolle und im Endeffekt partnerschaftlicher Gewalt Vorschub. Erlern schildert in ihrem Vortrag, welchen digitalen Bedrohungen Frauen durch ihre Ex-Partner und/oder Väter ihrer Kinder ausgesetzt sind, und stützt sich dabei auf ihre Arbeit mit Frauenhäusern. Die Geschlechterdimension digitaler Gewalt, die hier erschreckend wie eindrücklich herausgestellt wird, ist Folge und Ausdruck digitaler Ungleichheiten. Auf die historischen Wurzeln der von Erlern skizzierten zeitgenössischen Beispiele digitaler Gewalt werde ich in meinem Dissertationsprojekt weiter eingehen.



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3) Lilith Wittmann: Knäste hacken

Wie der Strafvollzug in Deutschland digital wurde und wie digitale Produkte im Alltag der Insassen eine Rolle spielen, ist bisher nicht erforscht. Bei diesem Thema verdichten sich gleich mehrere für die Digitalgeschichte regelrecht „klassische“ Ebenen der Fragestellung: Nach welchen Kriterien werden Menschen im Strafvollzug erfasst und „verwaltet“? Wie ist ihr Zugang zur digitalen Welt strukturiert und reguliert, welche Formen der digitalen Teilhabe stehen ihnen offen? Gibt es so etwas wie eine digitale Kultur, die spezifisch ist für den sozialen Raum Gefängnis?

In ihrem Vortrag deckt die Berliner Hackerin Lilith Wittmann Datensicherheitslücken in deutscher Gefängnissoftware auf. Die Folge dieser Sicherheitslücken war, dass sensible Personendaten von Gefängnisinsassen – bis Wittmans Hack – über Jahre zugänglich waren. Darüber hinaus zeigt sie, wie der Zugang zu digitalen Produkten von Strafgefangenen durch überteuerte Preise (teils rechtswidrig für nicht-lizensierte Open Source Programme) erschwert und die Kommunikationsmöglichkeiten mit der Welt außerhalb des Gefängnisses dadurch stark eingeschränkt werden. Ein Grund hierfür ist, dass eine einzige Firma in Deutschland ein de facto Monopol auf die sogenannten Haftraummediensysteme hat.

Wittmann hat darüber hinaus durch Anfragen über das Informations-Freiheits-Gesetz (IFG) hunderte Ausgaben von Gefängniszeitschriften erhalten. Aufgrund der Rahmenbedingungen des Strafvollzugs waren diese bislang nicht ohne Weiteres zugänglich. Die Gefängniszeitschriften sind eine einzigartige Quelle für Einblicke in das Leben hinter den Gefängnismauern und ein Spiegel der Themen und Perspektiven der Strafgefangenen. Über 300 Ausgaben der Gefängniszeitschriften hat Lilith Wittmann unter https://knastarchiv.de/#/ veröffentlicht und damit ein einzigartiges, offen zugängliches Archiv aufgebaut. Die Arbeit der Hackerin zeigt, wie digitaler Aktivismus zur wertvollen Grundlagenarbeit für akademische Forschungen werden kann und politische und wissenschaftliche Anliegen Hand in Hand gehen können.

 

 

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