Von Nerds, Hackerinnen und Arbeitern. Computerexpert:innen als Agenten der Spätmoderne?
von Johannes Kleinmann, Februar 2025
Als ich den Titel des Forschungsprojekts „A Class of Experts. Computer Work and its Hierarchies” am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam das erste Mal las, stolperte ich zunächst über den Klassenbegriff. Computerexpert:innen als eigene Klasse zu fassen, passte weder zu meinen popkulturell geformten Bildern von Computernerds, noch zu den mir persönlich bekannten Informatiker:innen. So assoziierte ich mit Computerarbeit zunächst geniale und extravagante Hacker:innen und Nerds, eine Art „Avantgarde der Computernutzung” (Erdogan 2021), die mal anarchistisch, mal libertär angehaucht waren, mal für Geld und mal ehrenamtlich arbeiteten, sich aber nie als kollektive Klasse verstehen würden.
Nun war mir klar, dass diese Berufsgruppe deutlich breiter und diverser ist als ich sie gerade gezeichnet habe. Allerdings erschien mir der Gedanke, Computerexpert:innen als Klasse Marxscher oder Weberscher Art zu fassen, weiterhin etwas abwegig. Was mich vor allem irritierte, war, dass die Menschen in diesem Berufsfeld scheinbar eher durch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale denn durch eine einheitliche (soziale) Klassenlage gekennzeichnet waren. Ihr primäres Kennzeichen schien zu sein, dass sie Vorreiter:innen und Agent:innen einer spätmodernen Singularisierung der Arbeitswelt (Reckwitz 2017) seit den 1970er Jahren waren, die auf Einzigartigkeit, Unterscheidbarkeit und Performanz abhebt und damit die Existenz von Klassen geradezu negiert. Nun ist die fehlende Selbstwahrnehmung als Klasse noch kein Grund, diesen Begriff für Computerexpert:innen zu verwerfen. Im Gegenteil, für Reckwitz steht diese Berufsgruppe geradezu paradigmatisch für die Neue Mittelklasse, für die Individualität und Authentizität entscheidend sind und die sich dennoch durch ein hohes Bildungsniveau und einem Leben in stabile finanzielle Verhältnisse auszeichnet. Dabei übersieht er – wie auch ich in meinen ersten Überlegungen zum Thema – die zahlreichen Computerarbeiter:innen, die weniger in kreativ-singulären Arbeitstätigkeiten als vielmehr in neo-tayloristischen Dienstleistungsfabriken arbeiten; sei es im Schichtbetrieb in Rechenzentren, bei der Programmierung von CNC-Maschinen (Computerized Numerical Control-Maschinen) oder als Arbeiter:innen, die „outgesourcte“ IT-Dienstleistungen verrichten. Zu letzterer Gruppe gehören zum Beispiel seit einigen Jahren viele Menschen in der Ukraine. Mehr als 30% der Dienstleistungsexporte des Landes stammen aus diesem Bereich.
Meine Gedanken zum Klassenbegriff im Kontext von Computerarbeit möchte ich zum Ausgangspunkt von Überlegungen zu Ungleichheiten machen. Diese können sich sozioökonomisch zeigen, aber gerade seit den 1970er Jahren kommen auch immer stärker kulturelle Aspekte der Hierarchisierung von Arbeitswelten und ihren Subjekten hinzu. Damit ist gemeint, dass es in vielen Berufen nicht mehr ausreicht, fleißig zu sein, sondern zudem Kreativität und Einzigartigkeit, kurz ein eigenes Profil verlangt wird. Dies verkompliziert ein Forschungsvorhaben, das die digitale Transformation der Arbeitswelten anhand von Computerarbeiter:innen als einen multidimensionalen Prozess untersuchen möchte. Grundsätzlich ist für mich dabei klar, dass Ungleichheiten nur verstanden werden können, wenn sie intersektional gedacht werden. Sozioökonomische Hierarchisierungen sind immer mit anderen Aspekten struktureller Auf- und Abwertung verbunden.
Aus analytischer Perspektive scheint es deshalb sinnvoll, zunächst einen Einblick „on the gound floor“ zu gewinnen. Anhand von Dokumenten wie Betriebszeitungen, Personalakten, aber auch zahlreichen sozialwissenschaftlichen Analysen, die sich seit den 1970er Jahren mit der Einführung von Computern in Unternehmen beschäftigten, möchte ich untersuchen, wer die Computerarbeiter:innen (definiert als alle Personen, die überwiegend an und mit Computern arbeiteten) waren, welche Stellung sie in Unternehmen einnahmen und wie sie sich selbst wahrnahmen bzw. von anderen im Unternehmen wahrgenommen wurden. Dafür bietet es sich an, die schriftlichen Quellen, um Oral-History-Interviews zu erweitern – sei es mit Computerarbeiter:innen, Manager:innen oder Gewerkschafter:innen. Mögliche „Case-Studies“ könnten den Einsatz der EDV in der Stahl-, Automobil- oder auch Elektroindustrie thematisieren. Im Bereich der Stahlindustrie wäre dies etwa Thyssen für die Bundesrepublik; in der DDR dagegen böte sich das Stahl- und Walzwerk Brandenburg an der Havel an, das eine umfangreiche IT-Abteilung besaß. Anhand solcher Beispiele lassen sich erste Erkenntnisse über Ungleichheiten und Hierarchien, über die Entstehung einer neuen Klasse im Bereich der Computerarbeit in den Betrieben gewinnen bzw. nachvollziehen, wie und warum diese entstand – oder ob alte Ungleichheiten reproduziert wurden. Diese induktive Herangehensweise ermöglicht es zudem, verschiedene Dimensionen von Ungleichheit zu erkennen, die dem immer auch subjektiv forschenden Historiker ansonsten möglicherweise entgangen wären.
Daran anschließend bietet es sich meines Erachtens an, eine Stufe höher zu steigen, d. h. die gewonnenen Erkenntnisse in einen breiteren gesellschaftlichen und ökonomischen Kontext zu setzen. Dabei stellt sich zum einen die Frage, ob und wie die Klasse der Computerarbeiter:innen auf politischer, gewerkschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene wahrgenommen, interpretiert und konstruiert wurde. Die vielfältigen Ängste und Erwartungen, die auf diese Berufsgruppe projiziert wurden, lassen dabei auch erste Rückschlüsse auf die Gesamtgesellschaft im Übergang zur Spätmoderne zu. Zum anderen möchte ich anhand von Ungleichheitskategorien wie Geschlecht, Einkommen, aber auch „Migrationshintergrund“ auf gesamtwirtschaftlicher Ebene einen Blick darauf werfen, wer diese Computerarbeiter:innen tatsächlich waren, wo sie wie arbeiteten und welche sozioökonomischen Konsequenzen dies für sie (und andere) hatte. Mich interessiert hier also die Empirie hinter der Narration.
Schließlich ließe sich in einem letzten Schritt darüber nachdenken, welche Rolle Computerarbeit(er:innen) in der Transformation der Arbeitswelten seit den 1970er Jahren, d. h. „nach dem Boom“ zukommt. Diese war in Westdeutschland durch eine Polarisierung zwischen hoch- und geringqualifizierten Arbeiter:innen, einer Flexibilisierung der Arbeit sowie der Etablierung neuer Ungleichheitssysteme geprägt. So wurden beispielsweise kulturelle Kapitalien wie Weltoffenheit, eine „interessante“ Persönlichkeit und Selbstbewusstsein wichtiger, um beruflich „zu performen“, die vor allem in Akademikerfamilien bereits frühzeitig eingeübt werden. Ich möchte die Frage diskutieren, ob Computerarbeiter:innen eine Art Avantgarde dieser „technologisch angeregten Singularisierung“ im Bereich der Arbeitswelten (Reckwitz 2017) und damit Vorboten und Agenten einer Neoliberalisierung waren. Dies ermöglicht es, neue Erkenntnisse über Arbeit in der Spätmoderne zu gewinnen, die auch für die aktuellen Transformationsprozesse im Zuge der „KI-sierung“ relevant sind.