Mauern, Märtyrer, Merchandise Willkommen im Grenzpark
Text und Fotos: Lennart Schmidt, Mai 2025
Wer in den 1980er Jahren eine westdeutsche Schule besuchte, erinnert sich vielleicht noch an die obligatorische Klassenfahrt nach West-Berlin – ein ritualisiertes Bildungsereignis, das in der Regel einen festen Programmpunkt beinhaltete: den Besuch der Berliner Mauer. Ob am Brandenburger Tor oder am Potsdamer Platz – hier konnte man einen Blick auf den anderen Teil der Stadt werfen, den Ostberliner:innen zuwinken und dabei gleichzeitig die Gewalt der Teilung spüren. Somit wurde die für Ostdeutsche tödliche Grenze zu einer Art musealem Erlebnisraum für westdeutsche Schüler:innen – und zu einem ersten Beispiel für das, was heute unter dem Schlagwort „Grenztourismus“ beschrieben wird.
Grenzen – Symbol von Trennung, Misstrauen und Kontrolle – haben sich in manchen Orten auch zu touristischen Attraktionen gewandelt. Die demilitarisierte Zone (DMZ) zwischen Nord- und Südkorea oder die stark überwachte Grenze zwischen den USA und Mexiko ziehen inzwischen jährlich hunderttausende Besucher:innen an. Besonders spektakulär ist jedoch das tägliche Ritual an der indisch-pakistanischen Grenze im nordindischen Ort Wagah. Hier wird seit den späten 1950er Jahren jeden Abend eine patriotische Grenzperformance inszeniert, die mit militärischer Choreografie, emotionaler Aufladung und nationalem Pathos ein Publikum begeistert, das eher an ein Popkonzert erinnert als an ein staatliches Ritual.
Schon die Anreise zum Schauplatz hat etwas von einer Kirmes: Vom nahegelegenen Amritsar, der Hauptstadt des Bundesstaates Punjab, fährt man in Sammeltaxis rund 30 Minuten bis zur Grenze. Von dort geht es zu Fuß weiter – vorbei an unzähligen Verkaufsständen, die alles anbieten, was in den indischen Nationalfarben erstrahlen kann: Flaggen, Pyjamas, Make-up, Armbänder, Mützen. Der Weg führt zu einem halbrunden Stadion, das in seiner Größe an deutsche Fußballarenen erinnert, mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, dass eine Hälfte fehlt – die andere, deutlich kleiner, steht auf der pakistanischen Seite, getrennt durch einen massiven Grenzzaun aus Stacheldraht.
Blick auf die Grenze und das pakistanische Grenzstadion hinter dem Stacheldraht kurz vor Beginn der Parade: Während das indische Stadion rund 24.000 Zuschauer:innen fasst, bietet das kleinere pakistanische Pendant Platz für etwa 5.000 – dafür mit höherem Fahnenmast und weithin sichtbarer Nationalflagge.
Was dann folgt, ist eine exakt einstudierte Choreografie zwischen Parade, Show und politischer Machtdemonstration: Während ein Offizier des indischen Grenzschutzes (BSF) das Publikum mit Parolen aufheizt, schwenken Frauen zu Bollywood-Beats und nationalen Liedern die Nationalflagge und ziehen in Richtung Zaun. Auf der anderen Seite dreht sich ein einbeiniger Sufi-Tänzer ekstatisch in Kreisen. Schließlich marschieren Grenzsoldaten beider Seiten auf, reißen synchron die Beine in den Himmel, stampfen auf, salutieren, blicken sich in die Augen – ein Duell der Disziplin, das von beiden Zuschauerlagern lautstark bejubelt wird. Nach gut zwei Stunden ist das symbolträchtige Spektakel vorbei, das Stadion leert sich, und was bleibt, ist die Erkenntnis, dass hier nicht nur eine Grenze markiert, sondern eine nationale Erzählung inszeniert wurde.
Wagah ist dabei längst kein Einzelfall mehr. Die indische Regierung hat den Symbolwert solcher Orte erkannt – und investiert gezielt in deren touristische Aufwertung. Besonders deutlich wird das im westindischen Bundesstaat Gujarat, wo mitten in der Salzwüste des Rann of Kutch ein Ort entstanden ist, der sich kaum noch mit traditionellen Begriffen beschreiben lässt. Hier wurde unter dem Label „Battlefield Tourism“ ein Mix aus Freizeitpark, Museum, Kunstgalerie und Kriegerdenkmal geschaffen – ein patriotischer Themenpark, der sich um die indische Grenzgeschichte dreht und gleichzeitig emotionale Bildung mit familienfreundlichem Unterhaltungswert kombiniert.
Eines der Ausstellungsgebäude in Nababet Grenzpark mit einem Wandbild der indischen Border Security Force (BSF)
Gefördert vom indischen Verteidigungsministerium und der nationalen Tourismusbehörde soll dieser „Grenzpark“ nicht nur historische Orte bewahren, sondern auch Nationalstolz fördern. Der frühere Generalstabschef V. K. Singh formulierte es folgendermaßen:
“Battlefield tourism in India offers a unique perspective on the country’s history, culture, and patriotism. Each experience is a journey into the heart and soul of the brave soldier who stood proud, fought, and died for the nation.”
Nadabet ist dabei ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Form der Erinnerungskultur. Besucher:innen durchlaufen eine aufwändig gestaltete Erlebniswelt, in der sie nicht nur Informationen über die Geschichte des indischen Grenzschutzes erhalten, sondern diese auch erleben können. So kann man in einem nachgebauten Patrouillenboot durch ein künstliches Flussdelta fahren, das Grenzgebiet zwischen Indien und Bangladesch „überwachen“, oder mit einer VR-Brille selbst am indisch-pakistanischen Grenzzaun patrouillieren gehen – ein immersives Erlebnis, das in spielerischer Form Identifikation mit dem eigenen Land erzeugen soll.
Eine Besucherin trägt ihre Namen für E-Shradhanjali ein. Danach bekommt man eine personalisiertes Zertifikat von der indischen Border Security Force
Daneben gibt es Kunstgalerien mit zeitgenössischen Interpretationen des Themas „Grenze“ und Gedenkstätten, in denen der Heldentod der indischen Soldaten während des dritten Indo-Pakistan-Krieges von 1971 erinnert wird. Besucher:innen können dort ein sogenanntes E-Shradhanjali abgeben – eine digitale Gedenkbotschaft, die per Touchscreen eingetragen wird und am Ende ein personalisiertes Zertifikat erzeugt, das man fotografieren und online teilen kann. Erinnerung, Selfie und Patriotismus – alles in einem Paket.
Der letzte Programmpunkt ist schließlich die Fahrt zum sogenannten Point Zero, dem realen Grenzzaun mitten in der Wüste. Internationalen Touristen war der Zugang dorthin bislang untersagt, doch ein leitender Mitarbeiter des Parks erklärte mir augenzwinkernd, dass ich dort „nicht viel verpassen“ würde – schließlich sei es „am Ende eben doch nur ein Stück Stacheldraht mitten im Nichts“.
Grenzen als Spiegel gesellschaftlicher Inszenierungen
Somit werden Orte der Trennung, des Misstrauens und oftmals auch der Gewalt zunehmend auch zu Bühnen patriotischer Inszenierung, kollektiver Erinnerung – und nicht zuletzt kommerzieller Unterhaltung. Die Grenze wird dabei nicht abgeschafft, sondern neu erfunden: als Erlebnisraum, als Projektionsfläche nationaler Identität und als konsumierbares Spektakel.
Der Grenztourismus, wie er sich heute in Indien und anderswo zeigt, bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Kommerz, zwischen Gedenken und Glorifizierung. Was als Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit Geschichte verkauft wird, ist oft auch ein kontrolliertes Narrativ, das weniger kritisches Denken als patriotisches Pathos erzeugen soll.
Die zentrale Frage bleibt: Was sehen wir eigentlich, wenn wir eine Grenze besuchen – und was sollen wir vielleicht gerade nicht sehen? Wird hier Geschichte erzählt – oder vielmehr inszeniert? Geht es um Erinnerung oder eher um Erhebung, um Reflexion oder um Reproduktion nationaler Mythen?
Grenzen zeigen nicht nur, wo ein Land aufhört – sie zeigen auch, wie ein Land sich selbst sieht und inszeniert. Wer an die Grenze reist, reist also auch durch die Narrative einer Nation. Und genau deshalb lohnt es sich, nicht nur den Buchstaben des Programms zu folgen, sondern auch zwischen den Zeilen zu lesen, um entlang des Zauns – und jenseits des Merchandise – nach der eigentlichen Geschichte zu suchen. Denn nicht selten liegt sie genau dort, wo die offiziellen Botschaften enden.
Am Ende der Ausstellung wartet ein fotogener Abschluss: Ein indischer Grenzsoldat aus Plastik lädt zum Selfie ein – ganz im Zeichen der Hashtag-Kultur.
Neben der musealen und performativen Inszenierung physischer Grenzen spielt zunehmend auch ihre digitale Erweiterung eine zentrale Rolle. In Indien zeigt sich exemplarisch, wie digitale Technologien die Vorstellungen von Grenze, Kontrolle und Zugehörigkeit neu strukturieren. Während in Wagah und Nadabet militärische Rituale, immersive Erlebniswelten und digitale Erinnerungsangebote wie das „E-Shradhanjali“ den Grenzraum in ein konsumierbares Spektakel verwandeln, findet gleichzeitig eine technologische Aufrüstung statt: weg von sichtbaren Barrieren hin zu unsichtbaren, algorithmisch gesteuerten Kontrollsystemen. Zwei Programme stehen im Zentrum dieser Entwicklung: das biometrische Identifikationssystem Aadhaar und das Reisekontrollsystem Digi Yatra. Beide machen deutlich, dass die Grenze heute nicht mehr nur an einem Zaun oder Schlagbaum verläuft, sondern im digitalen Raum verankert ist – durch Daten, Scans und staatlich kontrollierte Informationsflüsse.
Aadhaar, 2009 eingeführt, ist das weltweit größte biometrische Register: Es sammelt Iris-Scans, Fingerabdrücke und persönliche Daten von über 1,2 Milliarden Menschen und ist mittlerweile zentraler Bestandteil staatlicher Verwaltungsprozesse vom Zugang zu Subventionen über Steueridentifikation bis hin zur SIM-Karten-Registrierung. Offiziell soll das System Effizienz schaffen und „leakages“ im bürokratischen System verhindern. Doch die Realität zeigt ein ambivalentes Bild: Menschen aus ärmeren Bevölkerungsschichten werden durch fehlerhafte Authentifizierung häufig vom Zugang zu staatlichen Leistungen ausgeschlossen. Zudem kam es immer wieder zu gravierenden Datenschutzverletzungen, etwa als Daten von über 81 Millionen Bürger:innen im Darknet angeboten wurden. Damit wird die biometrische Grenze nicht nur zu einem Werkzeug der Inklusion, sondern auch zu einem Mittel der Exklusion und Kontrolle.
Ein zweites Beispiel für die Digitalisierung der indischen Grenze ist Digi Yatra, ein seit 2022 an Flughäfen eingesetztes Gesichtserkennungssystem. Es erlaubt registrierten Passagier:innen, durch die Sicherheitskontrolle zu gelangen, ohne ihren Ausweis oder ihre Bordkarte vorzeigen zu müssen – nur per Gesichtsscan. Auch hier wird ein Versprechen von Komfort und Modernisierung geäußert, das jedoch die strukturelle Logik von Überwachung und Datensammlung verdeckt. Denn laut Berichten wird das System nicht immer transparent vermittelt: Viele Reisende berichten, dass sie unter Druck gesetzt oder falsch informiert, damit sie sich registrieren. Offiziell sollen die gesammelten biometrischen Daten 24 Stunden nach dem Flug gelöscht werden – doch eine Studie weist darauf hin, dass dies für Metadaten und Bewegungsprofile nicht klar geregelt ist.
Die emotionale Mobilisierung an der Grenze wird durch eine digitale Infrastruktur ergänzt, die Zugehörigkeit technokratisch definiert. Aadhaar, Digi Yatra und andere Systeme erweitern das Grenzregime ins Unsichtbare – hinein in Datenbanken, Interfaces und staatliche Softwaresysteme. Damit vervielfältigt sich die Grenze: Sie wird nicht mehr nur durch Zäune markiert, sondern durch Codes und Kontrolle. Wer dazugehört, entscheidet sich längst nicht mehr am Schlagbaum, sondern in den Datebanken.